Spötter, die meinen, dass in Österreich Aberkennungen von Doktorgraden zwar theoretisch möglich sind, aber doch eher als gar zu arge Sanktionsform gelten und daher in der Praxis menschenfreundlicherweise tunlichst vermieden werden, mögen damit zwar prinzipiell ein gewisses Näheverhältnis zur Wahrheit offenbaren, könnten jetzt aber von einer Nachricht aus Graz verblüfft werden:
Nachdem im Juni 2016 erstmals Plagiatsvorwürfe gegen die 2000 an der Universität Graz vorgelegte Dissertation des gegenwärtigen Landesrats (Ministers) in der Steiermärkischen Landesregierung Christian Buchmann (seit 2015 Ressortchef für Wirtschaft, Tourismus, Europa und Kultur) publik geworden waren – Stefan Weber, von dem die Plagiatsanalyse stammt: "Doktorarbeit zu 30 Prozent ohne Quellenangaben abgekupfert" –, kam es Anfang April 2017 zu einer Entziehung des Doktorgrades. Eingeholte Gutachten der Universität hatten Plagiatsstellen, "wissenschaftliche Schwächen" und "schwerwiegende Verletzungen der Regeln guten wissenschaftlicher Praxis" gerügt und eine Aberkennung empfohlen.
Über die Aberkennung hinausgehende Folgen sind natürlich nicht zu erwarten:
Der Betroffene, der bereits bei Bekanntwerden der Vorwürfe eher nonchalant reagiert, die Vorwürfe als "nicht haltbar" bezeichnet und eine Täuschungshandlung bestritten hatte, ferner keinen Anlass für Konsequenzen sah und den Gedanken kundtat, bei einem für ihn negativen Ausgang der Sache "eine neue Arbeit zu verfassen", präsentierte sich gegenüber Journalisten nunmehr zerknischt. Er habe es "in Teilen der Arbeit unterlassen, die vollständige und umfängliche Zitierung von Werken anderer Autoren entsprechend zu kennzeichnen", was ihm "persönlich sehr, sehr leid" tue. "Dafür möchte ich mich auch entschuldigen."'
Doch ungeachtet des offenbarten Widerspruchs zur Erklärung auf Seite 2 der Dissertation ("Ich erkläre ehrenwörtlich, daß ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfaßt, andere als die angegebenen Quellen nicht benützt und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.") wird lediglich ein handwerklicher "Fehler, der mir offenkundig passiert ist", eingeräumt, bestritten wird hingegen weiter eine Täuschungsabsicht: "Ich habe nicht getrickst." Und überhaupt: "Soll ich wegen einer Schlamperei vor 17 Jahren den Beruf aufgeben?"
Und seine Partei springt ihm selbstredend unverzüglich bei:
Der Grazer Bürgermeister ("Bezahlte Kopfgeldjäger werden nicht die Zukunft von Politik bestimmen!") kategorisiert den Fall als "Fehler in einer Grauzone unseres Bildungssystems" und ansonsten als "Revanchefoul" und "Politiker-Hatz", bei dem er "anonyme politische Heckenschützen am Werk" sieht, "die ganz offensichtlich zu feig sind, öffentlich zu den Motiven ihrer sündteuren Gutachten-Aufträge zu stehen. Es geht also eindeutig nicht um lautere Interessen!" (Am Rande ihrer Berichterstattung erwähnt die Tageszeitung Der Standard, dass desselben Bürgermeisters "Magisterarbeit – so kursierte auf Twitter zumindest eine entsprechende Uni-Anfrage – auf Dauer ausgeliehen und, so wird spekuliert, womöglich ebenso geprüft wird", was dessen Groll womöglich miterklären könnte.)
Für andere Fürsprecher Buchmanns rangierte der missliche Fall schon vor der Entscheidung der Universität ohnehin unter "lange zurückliegende Verfehlung".
- So verblüffend es für österreichische Verhältnisse auch ist: Konsequenzen gab es – zwei Wochen nach der Aberkennung – nun doch noch:
"Der steirisches Wirtschaftslandesrat Christian Buchmann (ÖVP) tritt wegen eines Plagiatsvorwurfs zurück. In einer Aussendung am Dienstag teilte er mit: 'Ich musste in den letzten Tagen zur Kenntnis nehmen, dass ein Fehler vor 17 Jahren schwerer wiegt als Leistungen in der Gegenwart und Ideen für die Zukunft.'"
Ein "Fehler" bleibt es für ihn aber natürlich weiterhin. -- Schumann (Diskussion) 13:48, 18. Apr. 2017 (UTC)
Wendet man sich nun von diesem aktuellen Fall ab und der Vergangenheit zu, zeigt sich, dass Graz in anderer Hinsicht ebenso interessant ist wie Innsbruck. Daher auf dieser Seite nachfolgend auch einige Anmerkungen zu einem historischen Doktorgrad dieser Universität, der jene einst ähnlich bekannt wie Innsbruck werden ließ – es geht um das Phänomen des
Dr. graz.
Neben Innsbruck gab (gibt?) es mit der Universität Graz noch mindestens eine weitere recht attraktive Adresse in Österreich für deutsche Promotionswillige – und auch hier scheint in den 1950er und 1960er Jahren der staatswissenschaftliche "rer. pol."-Doktorgrad auf großes Interesse gestoßen zu sein. Wie beliebt Graz für Deutsche in quantitativer Hinsicht damals war, ist unklar, könnte sich (über eher zufällige Google-Suchresultate hinaus) aber vielleicht genauer aus dem Dissertationen-Verzeichnis der Universität Graz (2 Bde, 1964/68) ermitteln lassen.
Interessant liest sich in diesem Zusammenhang auch, was der durch seine aufsehenerregende Milliardenpleite 1994 bekannt gewordene Immobilienunternehmer Jürgen Schneider (* 1934) zu seiner Grazer Promotion schreibt. Schneider, der 1954-1960 zunächst ein Bauingenieur-Studium an der TU Darmstadt absolviert hatte ("Ich blieb ein mittelmäßiger Student. An Wissenschaft hatte ich kein Interesse; auf dem Weg des geringsten Widerstands strebte ich möglichst schnell zum Examen." [S. 31 f.]), schildert diese Zeit zwischen 1961 und 1963 in seinen Memoiren Bekenntnisse eines Baulöwen (Berlin 1999):
- "Bis März 1961 blieb ich in Stuttgart und zog dann [...] nach Graz [...]. Graz besaß für mich einen unschätzbaren Vorteil: Man konnte hier auf besonders schnelle Weise den Grad eines Doktors erlangen, auch wenn Österreich deshalb nicht den besten akademischen Ruf genoß. Ich fand nämlich, daß mir ein solcher Titel gut anstünde, besonders auch deshalb, weil mein Vater nicht promoviert hatte. [...] Als besonders aussichtsreich für den kurzen Weg zum begehrten Titel galt das Studium der Staatswissenschaften, das betriebswirtschaftliche, wirtschaftsgeschichtliche und völkerrechtliche Aspekte vereinte.
Bereits 1962 hatte ich das erste Rigorosum in Staatswissenschaft absolviert. Im selben Jahr war ich in die Firma des Vaters eingetreten und betreute als Bauleiter die Errichtung eines Wohnblocks in Ginnheim. [...] Nebenher pendelte ich mit meinem ersten eigenen Auto [...] zum Studieren nach Graz. [...]" (S. 33)
- "Zum zweiten Rigorosum am 30. Juli 1963 legte ich meine Doktorarbeit vor: 'Lohnpolitik, Konjunktur, Inflation. Beobachtungen am Beispiel der Bauwirtschaft als Schlüsselindustrie'. Ihre zentrale These lautete, daß die Lohnpolitik sich an der branchenspezifischen Produktivitätszuwachsrate orientieren sollte, um insgesamt die Inflationsgefahr zu dämmen und tarifpolitische Streitigkeiten zu vermeiden. Für den gutgemeinten Versuch, eine Berechnungsformel für angemessene Lohnzuwächse zu erfinden, erhielt ich eine gute Note und schlug mich auch im Mündlichen redlich." (S. 34)
(Negativer erinnert sich übrigens der Schriftsteller Peter Handke, der dort zeitlich parallel zu Schneider an der gleichen Fakultät von 1961 bis 1965 Jura studierte; 1989 äußert er über diese Grazer Zeit: "Nie wieder habe ich von der Sache so unbeseelte Menschen erlebt wie jene Professoren und Dozenten der Universität [...].")
In seiner FAZ-Rezension der Schneider-Memoiren erwähnt Jürgen Jeske 2000 auch den Promotionsort und subtil den Makel, der diesem anhaftete:
- "Schneider hat wie der Vater, Großvater und Urgroßvater an der TH Darmstadt studiert, ist Korpsstudent gewesen und hat promoviert, wenn auch in Graz."
Eine deutlichere Einordnung fand sich bereits 1996 in einem SPIEGEL-Bericht (Erfolg mit großem Blöff) über den Fall Schneider:
- "Nebenbei promoviert Jürgen Schneider in Staatswissenschaft – an der Universität Graz. Der 'Dr. Graz' ist zwar nicht gerade das, was in Akademikerkreisen ehrfurchtsvolles Staunen hervorruft, aber zum erstenmal hat Jürgen es dem Alten [seinem Vater] gezeigt: Er hat nun einen akademischen Titel mehr als der."
Aufschlussreich erscheint auch ein Detail in einem FOCUS-Artikel von 1997, in dem es um Schneiders Flucht aus Deutschland 1994 ging:
- "Der Familienvater hatte an alles gedacht: Familienbücher und Zeugnisse verstaute er in den Koffern. Dazu packte er auch seine Promotionsurkunde. Schneider hat seinen Doktortitel an der Uni Graz erworben. In Staatswissenschaften und nicht, wie er immer [!] den Bankern gegenüber behauptete, in Betriebswirtschaftslehre."
Demnach scheint das Wissen um das Reputationsproblem des österreichischen oder zumindest des Grazer staatswissenschaftlichen Doktorgrades auch in den 1980er und 1990er Jahren und über Hochschulkreise hinaus in Deutschland derart verbreitet und dieser Grad so wenig als Statussymbol geeignet gewesen zu sein, dass Schneider es für angeraten hielt, ihn gegenüber deutschen Bankvertretern zu verleugnen.
In einer Kolummne beschäftigt sich Schneider 2001 mit der Frage Wie werde ich... gerissen?:
- "Ich kannte die Spielregeln im Geschäft und wusste, dass man den größten Erfolg hat, wenn man sie und die Rituale der anderen kennt, übernimmt und anwendet: Da kann es hilfreich sein, wenn Sie eine schöne Fassade aufbauen, um mit Banken ins Geschäft zu kommen. Denn die bilden sich selbst auf ihre glitzernden Fassaden etwas ein. Ein Doktortitel kann da nicht schaden, ein Schlösschen als Firmensitz, oder ein Professor und ein Graf als Repräsentanten. In so einem Ambiente ist für kritische Fragen und unvoreingenommene Prüfungen kein Platz."
Folgt man dem Sammelband Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz. Zwischen empirischer Analyse und normativer Handlungsanweisung: wissenschaftsgeschichtliche Befunde aus drei Jahrhunderten, hrsg. von Karl Acham, Wien/Köln/Weimar 2011, lag es primär an den abgesenkten Anforderungen für den Grad des "Doktors der Staatswissenschaften", durch die das Grazer Ansehen so negativ beeinflusst wurde. Die Hauptverantwortung wird dabei zwei Personen zugewiesen:
- Josef Dobretsberger (1903-1970), Jurist und Nationalökonom. Professor in Graz 1933-1938 und wieder ab 1945; politisch sehr aktiv.
- Anton Tautscher (1906-1976), Ökonom, ab 1946 in Graz Professor für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft.
So heißt es im Einleitungsteil zur Sektion Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Graz – ein summarischer Überblick (S. 365-406):
- "Vor allem für Dobretsberger gilt, daß sein wissenschaftliches Werk von politischen Aktivitäten vorübergehend in den Hintergrund gedrängt wurde, da ihm kaum Zeit für gründliche Arbeit blieb. Vor allem hat er sich – auch noch nach der Hochblüte seiner politischen Aktivitäten – oft nur wenig Zeit für seine Pflichten als Universitätslehrer genommen. Gemeinsam mit Anton Tautscher [...] ist er hauptverantwortlich für die Approbation von qualitativ oftmals verheerenden staatswissenschaftlichen Dissertationen. Die doppelt praktizierte Nachlässigkeit, aber auch die mangelnde Kontrolle durch übergeordnete Instanzen führten zum geradezu seriell erwerbbaren Doktordiplom in den Staatswissenschaften, einem als 'Dr. graz' verulkten akademischen Titel, welcher der Reputation der Universität sehr zum Schaden gereichte und ihr dazu noch Spott eintrug." (S. 397)
Nach Reformen, in deren Zuge Ende der 1960er Jahre die Studiengänge Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft eingerichtet worden waren, lief das Studium der Staatswissenschaften mit seinem "Dr. rer. pol."-Abschluss 1972 aus (S. 399).
Wenn denn zutrifft, dass in Graz die Aktivitäten von nur zwei Professoren (plus eine "mangelnde Kontrolle durch übergeordnete Instanzen") ursächlich waren, so ist bemerkenswert, dass dies bereits ausreichte, um den Ruf der ganzen Universität massiv zu beeinträchtigen und noch Jahrzehnte später mokante Reaktionen zu provozieren. (Wieviele und welche Personen mögen in den 1950er und 1960er Jahren in Innsbruck für die dortigen 'Verhältnisse' – s.o. – verantwortlich gewesen sein?)
-- Schumann (Diskussion) 18:03, 5. Apr. 2017 (UTC)